Nach offiziellen Statistiken ist die Zahl der Gottesdienstbesucher in Deutschland seit Jahrzehnten rückläufig. Laut dem Statistik-Portal statista sank die durchschnittliche Anzahl der katholischen Gottesdienstbesucher in Deutschland von 1950 bis 2016 um fast 80 Prozent, was 9 Millionen Menschen entspricht. Auch die Zahlen der Gottesdienstbesucher der Evangelischen Kirche gehen zurück. So berichtete die Idea am 11. April 2017 von einem neuen Tiefstand. Parallel zu dieser Entwicklung sinken die Zahlen der Mitglieder tendenziell. Die EKD informiert dazu auf Ihrer Internetseite. Insgesamt ist die Mitgliederentwicklung in allen Religionsgemeinschaften laut Wikipedia rückläufig. Bei den Freikirchen ist die Entwicklung nach einer Meldung von Jesus.de vom 18. Juni 2015 uneinheitlich. Unterm Strich ergibt sich auch dort keine wesentliche Trendwende.
Warum treten Menschen aus der Kirche aus?
Das Bistum Essen berichtete am 29.06.2017 nach Auswertung einer Umfrage, dass die Gründe für Kirchenaustritte vielfältig sind. So werden u. a. „Entfremdung“, „fehlende Bindung“ und eine „nicht mehr zeitgemäße Haltung“ aufgeführt. Negative Schlagzeilen über Kirchen und persönliche Glaubenszweifel spielen nach meiner persönlichen Erfahrung im Austausch mit Menschen bei Infoveranstaltungen auch immer wieder eine Rolle. Die Entscheidung zum Austritt ist oft ein längerer Prozess. Als Kind getauft, später die Kommunion oder Konfirmation, Weihnachtsgottesdienste, Hochzeiten, Beerdigungen – mehr Berührungspunkte mit der Kirche gibt es für viele Menschen kaum. Sie sind froh, wenn sie am Sonntag ausschlafen und etwas unternehmen können. Gottesdienste gelten hingegen oft als langatmig und altmodisch. Durch den immer größer werdenden Abstand zu kirchlichen Berührungspunkten verblasst das Interesse und nicht selten auch der Glaube. Es fehlt dann nicht mehr viel, bis es schließlich zum Kirchenaustritt kommt.
Was sagen Kirchenvertreter?
Kirchenvertreter diskutieren seit je her ausführlich über theologische Inhalte. Als Basis dienen die Heiligen Schriften (Altes Testament und Neues Testament), die jedoch unterschiedlich auslegbar sind. So gibt es also kein einheitliches Konzept für Kirchen, sondern verschiedenste Interpretationsmöglichkeiten, aus denen sich teils jahrhundertealte Traditionen entwickelt haben. Bewährte Methoden können durchaus Vertrauen erzeugen. Das vehemente Festhalten an Traditionen kann jedoch auch blockieren.
Der katholische Pfarrer Thomas Frings schreibt in seinem Buch Aus, Amen, Ende?: So kann ich nicht mehr Pfarrer sein, weshalb er selbst sein Amt als Pfarrer niederlegte. Er kritisiert Missstände innerhalb der kirchlichen Alltagspraxis und liefert aber auch neue Lösungsansätze. So nehmen Kirchenmitglieder beispielsweise gerne den kirchlichen Segen zur Hochzeit in Anspruch und gehen dann wieder auf Distanz. Infolge gibt es immer weniger regelmäßige Gottesdienstbesucher.
Der schweizer Mönch Martin Werlen schreibt in seinem Buch Zu spät.: Eine Provokation für die Kirche, Hoffnung für alle über eine „Entfremdung der Kirche von den Menschen“ und warnt vor einer trügerischen Hoffnung.
Haben Freikirchen effektivere Konzepte?
Einige Freikirchen haben innovative Gottesdienstformate entwickelt, die insbesondere junge Menschen ansprechen sollen. So gibt es u. a. die Kirche im Kino (beispielsweise ICF Essen oder Braunschweig Connect) sowie die klassische Kirche im neuen Gewand mit moderner Veranstaltungstechnik (z.B. EXODUS Gemeinschaft). Im Mittelpunkt dieser Angebote steht ein Gottesdienst. Häufig erreichen diese Angebote junge Menschen, die bereits kirchlich sozialisiert sind. Anstatt die altbekannte Heimatgemeinde zu besuchen, wechseln sie zu den attraktiveren Angeboten. Fraglich ist jedoch, ob dadurch auch kirchenferne Menschen erreicht werden, die bislang wenig oder kaum Berührung mit Kirchen hatten. In der Regel sind Freikirchen jedoch mutiger in der Umsetzung neuer Ideen, da sie kein zu starres Regelwerk haben.
Worst Case: Wenn die Schließung von Kirchen droht
In einigen Regionen Deutschlands ist es bereits dazu gekommen, dass Kirchen schließen mussten aufgrund mangelnder Gottesdienstbesucher. Es gab bereits Kirchen, die sogar abgerissen werden mussten oder einer neuen Nutzung zugeführt worden sind. Die Kosten für Unterhalt und Personal konnten nicht mehr aufgefangen werden. Im besten Fall können Kirchengemeinden dann zusammengelegt werden und sich Personal teilen. Für Pfarrer ist dies nicht selten eine große Belastung. Vor einer bevorstehenden Kirchenschließung regt sich häufig noch ein Widerstand der Anwohner im betreffenden Ortsteil. Letztendlich wäre jedoch kaum jemand bereit, die Gottesdienste häufiger zu besuchen. Die finanziellen Gegebenheiten machen den eintretenden Worst Case dann unvermeidbar.
Das Bedürfnis nach Gottesdiensten ist gering
Versucht man im Freundeskreis oder in der Nachbarschaft Gottesdienstbesucher zu gewinnen, begegnet man den kreativsten Ausreden. Natürlich gibt es gute Gründe, weshalb Menschen am Sonntagmorgen keine Zeit haben. Wahrscheinlicher ist jedoch ein mangelndes Interesse. Ob der Gottesdienst besonders für Gäste optimiert oder mit modernen Elementen angereichert wurde, ist kaum noch entscheidend. Viele Menschen schließen einen Gottesdienstbesuch unabhängig von besonderen Ereignissen (wie Taufe, Hochzeit oder Beerdigung) prinzipiell aus. Ein Pfarrer könnte sich auf den Kopf stellen und würde dennoch kaum etwas erreichen. In den Köpfen der Menschen sind bestimmte Erfahrungen und Assoziationen zum Thema Kirche verankert, die sich meist negativ auf das Interesse an Gottesdienstbesuchen auswirken.
Was bieten Kirchen außer dem Gottesdienst?
Das Programm vieler Kirchengemeinden ist sehr umfangreich. Es gibt kaum eine Zielgruppe, die nicht berücksichtigt wird. Angefangen beim Kindergottesdienst (teilweise sogar nach Altersklassen gesplittet) gibt es spezielle Angebote für Jugendliche, junge Erwachse, Eltern, Berufstätige und Senioren. Auch sozial sind viele Kirchengemeinden engagiert. Hinzu kommen altersunabhängige Angebote wie Kreativgruppen, Bibelkreise, Hauskreise, Gebetsgruppen oder Seelsorge. Man kann in der Regel behaupten, dass es genügend Programme gibt. Schwierig wird es teilweise, verfügbare Mitarbeiter zu finden, die ehrenamtlich aktiv sind. Nicht selten kommt es vor, dass Gemeindemitarbeiter an ihre Belastungsgrenze gelangen.
Rolle des Gottesdienstes als zentrale Anlaufstelle
Zentrales Element der Kirchen sind nach wie vor die Gottesdienste. Jeder Gemeindeleiter wünscht sich möglichst viele Gottesdienstbesucher. Alle anderen Veranstaltungen und Angebote spielen eine untergeordnete Rolle. Sofern Gäste eingeladen werden, ist in der Regel der Gottesdienst Dreh- und Angelpunkt. Selbst, wenn man nur einzelne Angebote wahrnehmen will, ist man erst voll in eine Kirchengemeinde integriert, sobald man möglichst regelmäßig am Gottesdienst teilnimmt. Diese Erwartungshaltung lässt sich vor den umworbenen Gästen nicht verbergen. Automatisch kommen persönliche Assoziationen zum Thema Gottesdienst ins Spiel, wenn man Menschen einladen will. Die Menschen unserer Zeit wollen die Souveränität über ihre freie Zeit am Sonntag erhalten und sich nicht einer unausgesprochenen Erwartungshaltung von Kirchen unterwerfen. Somit stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, an der zentralen Rolle des Gottesdienstes festzuhalten.
Wie wäre eine Kirche ohne Gottesdienst?
Manche Kirchengemeinden können aus personellen Gründen keinen regelmäßigen Gottesdienst aufrechterhalten. Oft kommen nur noch wenige Gottesdienstbesucher. Gastredner, eine Zusammenlegung von Kirchengemeinden oder größere zeitliche Abstände zwischen den Veranstaltungen dienen dann teilweise als provisorische Lösung. Gänzlich auf Gottesdienste zu verzichten kommt aus traditionellen Gründen jedoch kaum in Frage. Verbunden sind diese Gottesdienste oft mit viel Aufwand. Die verfügbaren ehrenamtlichen Mitarbeiter sind dann kaum noch in der Lage, ergänzende Programme anzubieten. Dadurch verliert die Kirchengemeinde zunehmend an Attraktivität für potenzielle Gäste. Anstatt die Aktivitäten dieser Kirchengemeinde einzustellen, stellt sich die Frage, ob man nur den Gottesdienst einstellen könnte, um die verfügbare Manpower für andere Aktivitäten freizusetzen. Welch ein Potenzial hätte man dann zur Verfügung? Außerdem wäre niemand mit einer unausgesprochenen Erwartungshaltung zur regelmäßigen Gottesdienstteilnahme konfrontiert. Fraglich ist natürlich, wie eine solche Vorgehensweise im biblischen Kontext zu sehen wäre. Ist ein möglichst regelmäßiger Gottesdienstbesuch entscheidend für die persönliche Erlösung?
Alternative Formen von Kirche ohne Gottesdienst sind denkbar
Meines Erachtens könnte man dem schwindenden Bedürfnis vieler Menschen an Gottesdiensten begegnen, indem man völlig neue Wege geht. Innovative Kirche würde auch ohne Gottesdienst funktionieren. An dieser Stelle geht es nicht um die komplette Abschaffung eines traditionellen Formats, sondern um dessen Ergänzung. Gut besuchte Kirchengemeinden, sollten durchaus ihr Gottesdienstkonzept fortführen. Es könnte jedoch einzelne Kirchengemeinden geben, die ihre Ressourcen nicht auf Gottesdienste fokussiert einsetzen. Stattdessen gäbe es mehr Freiraum für alternative Konzepte. Dem Bedürfnis nach Gemeinschaft könnte man u. a. durch eine Cafékirche, gemeinsame Projekte oder auch sportliche Aktivitäten begegnen. (Es gibt bereits Pastoren, die sich auf Sport spezialisiert haben.) Theologische Inhalte lassen sich in Form von Diskussionsrunden und Seminaren erarbeiten. Zeiten der Stille könnten den Menschen als Oase der Ruhe im Alltag angeboten werden. Wer zusätzlich (etwa als traditioneller Gottesdienstbesucher) das Bedürfnis nach einem Gottesdienst verspürt, findet mit Sicherheit weiterhin bestehende Angebote im lokalen Umfeld. Alternativ können Predigten auch per Streaming oder Podcast im Internet nach thematischen Präferenzen abgerufen werden. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich nicht prinzipiell gegen Gottesdienste bin. Es geht mir vielmehr um neue konzeptionelle Freiräume. So können kirchenferne Menschen erreicht werden, die Gottesdienste als Barriere wahrnehmen.
InnovativeKirche.de sucht nach alternativen Konzepten
Unternehmen würden mit einer Zielgruppenanalyse beginnen, bevor sie ein neues Angebot auf dem Markt platzieren. Warum sollten nicht auch Kirchen auf diese Weise agieren? Die potenzielle Zielgruppe von Kirchen ist groß. Es lohnt sich, die Bedürfnisse der betreffenden Menschen zu ergründen. Nicht jeder ist ein potenzieller Gottesdienstbesucher. Es gibt leider keinen Masterplan oder ein allumfassendes Konzept, welches allen Wünschen gerecht wird. So wie ein Unternehmen nicht an jedem Ort Produkte auf die gleiche Weise absetzen kann, lässt sich ein Konzept nicht 1:1 von A nach B übertragen. Es sind individuelle Lösungen gefragt, die nicht zwangsläufig aufwändig und teuer sein müssen, um besonders gut zu funktionieren. Kirchengemeinden sollten sich im Wesentlichen organisch entwickeln. Wo bereits zwei oder drei Menschen versammelt sind, ist Christus anwesend, heißt es in der Bibel. Es braucht daher keine kostspieligen Veranstaltungen. InnovativeKirche.de will einen Beitrag leisten, alternative Konzepte ohne großen Aufwand für innovative Kirchen im 21. Jahrhundert zu finden.